Rezensionen zu SELFME
SELFME – Das Selfie beim Wort genommen
von Martin Hegel
ehem. Leiter Kommunikationsdesign, Museum Angewandte Kunst, Frankfurt/Main
Wir überspringen hier gleich eine tiefere etymologische Sektion der Begriffe SELFME und SELFIE, kürzen sie vielmehr ab und nehmen die Aussage der Überschrift selbst beim Wort, verstehen sie gleichermaßen als Definition wie auch als Arbeitshypothese. Denn so können wir uns direkt der Frage zuwenden, was eine Idee wie das SELFME, die dann zum Projekt und schließlich zur Aktion wurde, in einem Museum macht, warum sie dorthin gehört. Und zwar nicht, damit möglichst viele Menschen diese Selbstportraits anschauen (dies ist aus Museumssicht tatsächlich nur der sekundäre Zweck), sondern, um möglichst viele Besucher anzuregen, selbst zum Stift zu greifen und den Unterschied zu fühlen zwischen selbstkontrolliertem, unbegrenzt wiederholbarem Blick in eine Handykamera und unkontrollierbarem Strich eines Bleistiftes, Fluss von Farbe oder Tinte und dem ständigen Abgleich zwischen der Figur auf dem Papier und der mehr oder weniger genauen Idee von der Person, die man dazu im Kopf hat. Wobei es – glücklicherweise – keine Teilnahmebedingung für ein SELFME war und ist, eine klare Idee vom Abbild seiner selbst im Kopf zu haben; Erkenntnis kommt ja bekanntlich auch oft erst beim Machen.
Partizipation als allgegenwärtiges Schlagwort, gleichermaßen im medialen, wie im musealen Alltag, Erlebnisräume und sich ständig weiterentwickelnde Formen von Vermittlungsarbeit in immer neuen, und sich doch wiederholenden Museumskonzepten ebenfalls beiseitegelassen:
Warum berührt Museumsmacher und Museumsnutzer gleichermaßen diese simple wie geniale Idee von Sabine und Volker Schrader, die Menschen ein einfaches, schnelles Bild von sich selbst zeichnen zu lassen?
Sind es überhaupt Bilder, sind es Arbeiten im musealen Sinne? Wann haben diese Menschen das letzte Mal einen Stift zur Hand genommen und etwas, oder gar sich selbst skizziert? Wo beginnt die Kraft, in der der Strich einer unbekannten Person dazu führt, dass ich selbst Lust darauf bekomme, mich zu zeichnen – und vor allem mir darüber Gedanken zu machen, was von mir ich da aufs beängstigend blanke Blatt bringen will?
Zeitsprung:
Schulzeit, Kunstunterricht, Thema figürliches Zeichnen, Proportionen des Körpers, Portraits und, der Höhepunkt (!), Selbstportraits. Im Schutze kindlicher Neugier und schulischer Ausbildung und Hinführung, noch weit weg von Abstraktion und Verkürzung auf das Wesentliche, galt es hier zunächst einmal das »Richtige« auf Papier zu bannen, das, was der Natur am nächsten kommt.
Stehen die Augen richtig zu den Ohren? Erstaunlich, wenn ein Kind die Erfahrung macht, dass die Augen nicht »über« dem Sinn des Hörens liegen, sondern alle Sinnesorgane, auch die für Riechen und Gleichgewicht, ja praktisch auch unser zentraes »Gedankenorgan«, auf einer Ebene – sprich Zeichenlinie – um die waagerechte Mitte des Kopfes herum angeordnet sind und daraus erste, frühe Ideen von Balance entstehen können. Sind die zu nah beieinanderliegenden Augen »falsch« oder hässlich, die Haare zu wild und rot oder die Lippen zu mädchenhaft, obwohl der Zeichner doch ein Junge ist? Zunächst dominiert im Handeln und damit Zeichnen noch der unbändige Wille, diesen Menschen dort im Spiegel »richtig« zu zeichnen, so wie er oder sie doch nun einmal aussieht. Und nur langsam, dafür unaufhaltbar, schleichen sich zwei Erkenntnisse in das Bewusstsein dessen hinein, der den Zeichenstift eben noch mit dem Anspruch hielt, ein möglichst naturgetreues Abbild seiner selbst zu erzeugen.
Erstens:
Bei aller Perfektion der Natur, es gibt kein einheitliches Maß für den Menschen, Abweichungen existieren nicht nur, sie sind an der Tagesordnung und machen uns als Individuum dann sogar aus.
Zweitens:
Wenn es die Perfektion, die »Wahrheit« sowieso nicht gibt, wer hindert uns daran der Form hier und da ein wenig nachzuhelfen, sich in einer Form, in einem Bild einzurichten, das man gerne von sich sehen und damit haben möchte? Im frühen Stadium des Kindes oder Jugendlichen beschränkt man sich hier auf die kleineren, einfachen Manipulationen, die sich zudem noch mit den Wunschvorstellungen vermischen, wie man als Erwachsener einmal »fertig« aussehen möchte. Hier werden die Lieblingsfarben der Augen oder Haare angepasst, die Nase etwas geradegerückt, die Schultern etwas kantiger und vermeintlich männlicher betont. Aber die Versuche in Form und Haltung auszubrechen bleiben zaghaft, und der oder die Selbstgezeichnete als Person eigentlich immer erkennbar.
Zeitsprung zurück:
Der Blick an eine Museumswand gerichtet, oder in das SELFME-Buch. Eine Ansammlung von Persönlichkeiten, alte und neue Bekannte und natürlich auch viele Unbekannte. Wo bleibt mein Blick hängen, welche Zeichnung überrascht mich? Ich staune über die große Bandbreite an Strichen und Stilen, ich suche nach Abgleichen zwischen Profession und Qualität, ich schmunzele über den immer wieder und auch bei manchem Erwachsenen immer noch aufscheinenden Drang nach Perfektion und »Wahrheitsnähe«. Und dann, dazwischen aufflackernd, das Überraschende, die Irritation, ein stirnrunzelndes Fragezeichen gar: Aber den oder die sehe ich doch ganz anders, die sieht doch schon lange nicht mehr so aus, jetzt macht er sich aber klein (oder groß) und vor allem: Das habe ich ja überhaupt noch nicht (in dieser Person) gesehen. Und ich beginne zu erkennen – jenseits von aller zeichnerischer Qualität eines Abbildes – wie gut eine Person eingefangen werden kann, einzufangen ist, einfach durch die Einladung sein ganzes ICH in ein paar eigenen Strichen – nicht zu verwechseln mit einfachen Strichen – zu erzählen.
In seinen Essays über Tugenden und Laster schreibt Martin Seel über die Selbsterkenntnis: »Sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein ist kein schlechter Weg zur Selbsterkenntnis, aber noch lange nicht ihr Ziel. (…) Sich spürend und überlegend zum Spektrum der eigenen Existenz zu verhalten, daraus erwächst die Kenntnis unserer selbst – und mit ihr die Fähigkeit, verändernd auf das eigene Selbstverständnis einzuwirken. Die erkennende Hinwendung zu sich selbst verlangt eine praktische Hinwendung zur Welt.« (Martin Seel, 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue; S. Fischer Verlag, 2011, S. 186-187)
Womit sich vielleicht der Kreis an Deutungen von Sinn und Zweck schließen lässt, warum Menschen in einem öffentlichen Museum anderen Menschen ihr bis dahin nicht öffentliches Eigenbild zeigen. Es ist eine gleichermaßen erkennende wie praktische Hinwendung jedes einzelnen von ihnen zu dieser Welt. Und dadurch unbedingt auch sehenswert.